Das Gasthaus zum wilden Manne

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Am Fuße des Brocken, im schönen Harz, da steht in des Bergkreises Banne ein Wirtshaus, das man im Lande kennt als das "Gasthaus zur grünen Tanne".
Und wenn der Sommer zog in das Land, dann kam nach gewohnter Weise zu dem freundlich-vornehm-diskreten Wirt manches Paar auf der Hochzeitsreise.
Und das beste Zimmer im ersten Stock - mit dem Erker und dem Balkone - war stets gerüstet für die Nacht, die ein junges Paar erstmals dort wohne.
Und es sah das Zimmer im ersten Stock manch´ zärtlich-glückliche Stunde, derweilen unten im Parterre beim Wirt saß die Stammtischrunde.
Fünf ältere Herren saßen am Tisch bei edlem Wein und Canasta: der Apotheker, der Doktor, der Wirt, der Amtsrichter und der Herr Pastor.
Und jedes Mal, wenn ein Hochzeitspaar einzog in das Zimmer dort oben, dann machte der Wirt nur leise "pst, pst!" und zeigt´ mit dem Daumen nach oben.
Dann wurden die Alten wieder jung und steckten die Köpfe zusammen, und es malte die Erinnerung in ihre Gesichter lodernde Flammen!
Und der Oberkellner, der würdige Franz, der stellte, sanft lächelnd in Milde, im Kübel ´ne Flasche Söhnlein kalt - er war für die Fälle im Bilde.
Und es hoben die Blicke der Alten empor sich zur Decke an eine Stelle grad´ über dem Tisch, wo an einem Holz hing eine silberne Schelle...
Und am Querholz sah man listig und klug sich ein zartes Fädchen befinden, das geheimnisvoll zur Decke hinzog - dort sah man es plötzlich - verschwinden...
Und jedes Mal, wenn sich mit silbernem Klang tat die Stimme des Glöckleins erheben, dann stießen die Alten die Kelche an und ließen das junge Paar leben!!!
Und der Ober füllte die Gläser frisch, er lächelte freundlich und milde und stellte ´ne weitere Flasche kalt - er war für die Sachen im Bilde.
Bald glühte den Alten der graue Kopf bei Perlwein und Canasta - dem Apotheker, dem Doktor, dem Wirt, dem Amtsrichter und dem Herrn Pastor.
Da geschah es mal wieder zur Zeit des Mai - im Gebüsch sang die Nachtigall leise - dass in das Zimmer im ersten Stock zog ein Paar auf der Hochzeitsreise.
Und wieder hatte der Ober Franz - sein Antlitz strahlte in Milde- die übliche Flasche kalt gestellt. Er war -wie immer- im Bilde!
Schon mehrmals hatte das Glöcklein getönt, schon mehrmals hob man die Becher, und wieder brachten dem jungen Paar ein "Hoch!" die ergrauten Zecher!
Doch als das Glöcklein zum sechsten Mal klang, hob der Doktor den Blick zu der Stange und sprach, und die anderen nickten ihm zu: "Um deren Zukunft ist mir nicht bange."
Dann saßen sie wieder und lauschten gespannt, und als die Töne noch immer nicht schwiegen, da paarte sich die Verwunderung mit der Hochachtung auf ihren Zügen!
Und als gar die achte Flasche geleert und die neunte bereits stand im Kübel, zitierte der Pastor mit heiligem Ernst diesbezügliche Stellen aus der Bibel.
Und der Amtsrichter wollte -als strenger Jurist- sich über die "ius primae noctis" verbreiten, da fing mit den andern Lateinern am Tisch der Apotheker bereits an zu streiten.
Und als ein weiteres Glockenspiel erklang wie das erste so milde, verlor selbst der Kellner den Überblick - er war nicht mehr ganz im Bilde!
Es wurde dem Doktor im Frack zu schwül, er hat sich nur schwer gemeistert, der Wirt aber sagte "Donnerkiel!" Er war von dem Glöckner begeistert!
Dem Amtsrichter stieg schon der Söhnlein zu Kopf, der Apotheker fing an zu toben, der Pastor hingegen sang ´nen Choral von der Güte des Herrn dort oben...
Und wieder wurden die Becher gefüllt, und wieder gefüllt auch die Kanne... das Glöcklein schwieg nicht in dieser Nacht im "Gasthaus zur grünen Tanne"!
So geschah es, dass ein winziges Glöckelein, das im Mai eine Nacht lang geklungen, durch sein helles, silbernes Jubelgeläut fünf trinkfeste Zecher bezwungen.
Und als dann das Glöckelein endlich verstummt, da hat es am anderen Tage der Wirt vergolden lassen geschwind - so geht jetzt im Lande die Sage.
Doch sucht ihr, dann sucht ihr vergeblich heut´ nach dem Gasthaus "Zur grünen Tanne" - Seit jenem Tage heißt es im Land das "Gasthaus zum wilden Manne"!!!